Year: 2017
Author: Hwang, Shu-Perng
Der Staat, Vol. 56 (2017), Iss. 1 : pp. 107–132
Abstract
Die Rechtsfigur der Verfassungsidentität hat im Zuge der europäischen Integration eine neue Karriere gemacht. In mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird die Verfassungsidentität im Verhältnis zwischen unionaler und nationaler Rechtsordnung immer wieder als Schlüsselbegriff hervorgehoben. Auch bei der Rechtsprechung des EuGH spielt die Verfassungsidentität schon deshalb eine Rolle, weil nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass das BVerfG spätestens seit seinem Lissabon-Urteil zunehmend und verstärkt auf die schwerwiegende Bedeutung der Verfassungsidentität hinweist. In seinem neuen Beschluss zum Europäischen Haftbefehl stellt das BVerfG die Verfassungsidentität des Grundgesetzes erneut heraus. Doch im Vergleich zu den früheren Entscheidungen zeichnet sich dieser Beschluss vor allem dadurch aus, dass er die Verfassungsidentität ausdrücklich als die absolute Grenze des Vorrangs des Unionsrechts bezeichnet. Bereits in dieser Hinsicht interessiert die Frage, wozu das BVerfG die integrationsfeste Verfassungsidentität des Grundgesetzes wiederum in den Vordergrund rückt. Grundlegender aber fragt es sich, ob die den Aussagen des Gerichts zugrunde liegende Gegenüberstellung von Vorrang des Unionsrechts einerseits und Verfassungsidentität des Grundgesetzes andererseits überhaupt berechtigt ist. Von dieser Problemstellung ausgehend, setzt sich der vorliegende Beitrag kritisch mit der “Identitätsvorstellung“ des BVerfG auseinander, indem er zeigt, dass dem Festhalten an der integrationsfesten Verfassungsidentität ein nicht nur dualistisches, sondern auch materielles Verständnis des europäischen Mehrebenesystems zugrunde liegt. Um die daraus folgenden Probleme zu bewältigen, plädiert der vorliegende Beitrag dafür, die Unionsrechtsordnung als dezentralisierte und entmaterialisierte Rahmenordnung aufzufassen, wobei die Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität sich selbst als Konkretisierung unionsrechtlicher Vorgaben darstellt und bereits insofern keineswegs dem Vorrang des Unionsrechts entgegensteht.
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Journal Article Details
Publisher Name: Global Science Press
Language: German
DOI: https://doi.org/10.3790/staa.56.1.107
Der Staat, Vol. 56 (2017), Iss. 1 : pp. 107–132
Published online: 2017-03
AMS Subject Headings: Duncker & Humblot
Copyright: COPYRIGHT: © Global Science Press
Pages: 26